Das japanische Sozialsystem

3. Absicherung im Alter

 


Inhaltsverzeichnis


3.1. Japanisches Gesundheitswesen

3.1.1. Bevölkerungsentwicklung

3.1.2. Medizinische Versorgung

3.2. System der Krankenversicherungen

3.2.1. Organisation des Krankenversicherungssystems

3.2.2. Finanzierung

3.2.3. Leistungen

3.3. Krankenversorgung der sozial Schwachen

3.3.1. Rentner

3.3.2. Tagelöhner

3.4. Berufsunfallversicherung


 

3.1. Japanisches Gesundheitswesen

3.1.1. Bevölkerungsentwicklung

Nach dem Krieg verbessert sich die Lebensqualität und die medizinische Versorgung: Die Sterbefälle an Tuberkolose, Lungenentzündung und Gehirnschlag gingen stark zurück. Durch die Senkung der Säuglingssterblichkeit folgte ein Baby Boom in den Nachkriegsjahren und noch einer am Anfang der 70er. Eine andere Auswirkung der verbesserten Versorgung war der Anstieg der Lebenserwartung nach dem Krieg. Die Lebenserwartung stieg nach Angeben des MHW von 1947 bis 1995 bei Männer von 50 auf 76,6 und bei Frauen von 54 auf 83 Jahre (BRD: 72,2 bzw. 78,8), so daß die Japaner heute die höchste Lebenserwartung in der Welt erreichten. Die japanische Bevölkerung hat sich seit 1872 von 34,8 Mio. auf 125,5 Mio. Einwohner (1996) fast vervierfacht. Mit zunehmender Lebenserwartung steigen aber die Fälle von Herzkrankheiten und Krebs. Mit wachsendem Wohlstand sank gleichzeitig die Geburtenrate, wodurch das Bevölkerungswachstum abgebremst wurde und die Gesellschaft in Japan rasch altert. Der zunehmende Rückgang der Geburtenrate war ein Grund für das Verbot der Antibabypille in den 60ern, welches erst 1992 verlängert wurde. Hierzu sei angemerkt, daß die circa 400.000 Abtreibungen pro Jahr vom japanischen Wertesystem toleriert werden.

3.1.2. Medizinische Versorgung

Nach dem zweiten Weltkrieg war es das Ziel des MHW medizinische Versorgung für alle, zu jeder Zeit, überall und zu niedriger Selbstbeteiligung anzubieten. In die 60er erreichte das japanische Gesundheitswesen den Standart der westlichen Industrieländer.

Heute gibt es rund 10.000 Krankenhäuser mit 1,9 Mio. Betten. Der durchschnittliche Krankenhausaufenthalt dauert etwa 50 Tage. Diese vergleichsweise hohe Zahl ist durch die geringe Anzahl von Plätzen in den Spezialpflegeheimen zurückzuführen. In den Krankenhäusern sind viele chronisch kranke Senioren untergebracht, welche eine Langzeitpflege (z.B. nach Schlaganfällen) bedürfen. Sie benötigen keine umfassende medizinische, sondern eine altengerechte Versorgung, die nicht von Familienangehörigen übernommen werden kann. Seit 1984 werden Krankenhäuser, welchen mit mehr als 70% durch ältere Patienten belegt sind, als Altenkrankenhäuser (rojin byoin) eingestuft. In diesen Krankenhäusern werden nicht die Leistungen, sondern eine Pauschale für jeden Patienten bezahlt. Sie können kostengünstiger arbeiten, da sie mit weniger Personal auskommen. Durch den "Gold Plan" soll Abhilfe geschaffen werden (siehe 4.2.2).

In Japan waren 1994 etwa 221.000 Ärzte (11% Frauen) zugelassen (1959: 70.000), das sind etwa 171 Ärzte auf 100.000 Einwohner. Das Arzt-Patient-Verhältnis ist traditionell durch Vertrauen und Achtung gekennzeichnet ist, auch wenn viele Ärzte ihren Patienten die Diagnose vorenthalten und an diese Arzneimittel ohne Bezeichnung oder Beipackzettel, lediglich mit einer Einnahmeanweisung ausgeben. In Japan dürfen die Mediziner direkt Medikamente an ihre Patienten verkaufen. Durch dieses Dispensierrecht können Ärzte dazu verleitet werden, mehr Arzneimittel zu verschreiben, da sie aus "Werbegründen" von den Unternehmen Rabatte eingeräumt bekommen und bei Verkauf zu Listenpreis einen zusätzlichen Gewinn erzielen können. Dies gilt als eine Ursache für den mit über 30% hohe Anteil (BRD: 15%) der Arzneimittelkosten an den gesamten Gesundheitskosten. Die Preise werden alle zwei Jahre vom MHW zwischen fünf und 30% gesenkt, dies richtet sich nach den Rabatten, welche dem Ministerium aus eigenen Krankenhäuser bekannt sind. Innovativen Arzneimittel werden um die Forschung zu unterstützen auf einem hohen Preisniveau zugelassen und - auch nach Ablauf des Patenschutzes - bis zu sechs Jahren geschützt, d.h. den Imitatoren wird ein niedriges Preisniveau zugewiesen. Das Dispensierrecht ist außerdem umstritten, da Ärzte aus Profitstreben verleitet werden können, neu eingeführte Medikamente zu verschreiben, deren Sicherheit noch nicht landesweit bestätigt wurde (1994: 15 Tote durch ein Mittel gegen Krebs). Beim MHW waren 1995 nur 20 qualifizierte Beamte (USA: 1.400) mit der Prüfung der Registrierungsunterlagen beschäftigt.

 

3.2. System der Krankenversicherungen

1927 wurde die erste öffentlichen Krankenversicherung in Japan gesetzlich eingeführt. Das Nationale Krankenversicherungsgesetz, das Städte und Gemeinden zum Anbieten einer Krankenversicherung für nicht versicherte Einwohner verpflichtet, wurde 1958 verabschiedet. Seit 1961 besteht ein Versicherungspflicht für alle Einwohner, d.h. als Direktversicherte oder mitversicherte Angehörige.

3.2.1. Organisation des Krankenversicherungssystems

Die Organisation des Versicherungssystems ist in zwei Gruppen unterteilbar. Eine Gruppe richtet sich in erster Linie nach der Arbeitsstelle der Versicherungspflichtigen. Diese Arbeiter- und Angestelltenversicherungen (AKV) versichern vor allem Arbeitnehmer kleinerer und mittlerer Unternehmen. Großen Unternehmen schließen häufig direkte Verträge mit privaten Versicherern ab und leisten z.T. Beiträge über die gesetzliche Pflicht hinaus. Für die kleinen Gruppen der Tagelöhner und der Seeleute existieren spezielle Versicherungen. In den Versicherungen auf Gegenseitigkeit (kyósai kumiai) sind Angestellte des öffentlichen Dienstes und vergleichbare private Angestellte vornehmlich des Erziehungsbereich versichert.

Die Personen, welche nicht von diesen Versicherungen erfaßt werden, müssen sich in der Nationalen Krankenversicherung (NKV, kokumin kenkó hoken) versichern. In dieser von Kommunen oder Nationalen Krankenversicherungsgesellschaften organisierten Versicherung ist die zahlenmäßig größte Gruppe versichert. Es handelt sich bei dieser Gruppe um Beschäftigte in Kleinst- und Familienunternehmen, um Selbständige, nicht erwerbstätige Frauen, Studenten über 21 und Beschäftigte, welche aus Altersgründen aus dem Betriebsversicherungssystem gefallen sind. Auch fallen Versicherungen für Anwälte, Doktoren, Künstler usw. in diese Kategorie.

3.2.2. Finanzierung

Prämien AKV AKV AKV Tagelöhner (pro Tag) Vers. der Seeleute Vers. des öff. Dienst Vers. der Kommunal- angestell. Vers. der Priv.schul-angestellte
Versicherte 4,15 3,52 ¥ 55 4,1 - - 3,65
Arbeitgeber 4,15 4,61 ¥ 85 4,1 - - 3,65
gesamt 8,3 8,13 ¥ 140 8,2 5,54-9,26 7,62-12,36 7,3

Tabelle 1: Prämienzahlungen für die unterschiedlichen Versicherungssysteme.

Die Beiträge der Arbeiter und Angestellten großer Unternehmen fallen deutlich niedriger als die von kleineren und mittleren Firmen aus. Die Beiträge zu den privaten Krankenkassen sind auf zusammen 9,5% beschränkt, sie erreichen durch die verschiedenen Tarife eine Durchschnittshöhe von 8,137%. Trotz der zusätzliche Leistungen sind sie im Durchschnitt niedriger als die zu staatlichen Versicherungen. Die Prämien der im privaten Erziehungswesen beschäftigten sind ähnlich hoch wie die der Privatversicherten, jedoch sind die ihrer Arbeitgeber deutlich niedriger. Von erwerbstätigen Mitglieder der NKV werden nach einem sozial gestaffelten einkommensbezogenem Schlüssel berechnete Beiträge erhoben, Mitglieder ohne eigene Einkünfte haben einen fixen Beitrag zu entrichten. Aufgrund der demoskopischen Veränderungen wurde durch das Gesetz über die Gesundheit älterer Menschen ein Ausgleichssystem für die finanziellen Auswirkungen der unterschiedlich hohen Anteile an Älteren in den verschiedenen Versicherungen eingerichtet.

Der Staat übernimmt bei den Versicherungssystemen, bis auf die Versicherung für Beschäftigte in privaten Erziehungseinrichtungen, die gesamten Verwaltungskosten. Außerdem werden der AKV sowie der NKV staatliche Zuschüsse für ein Teil der Leistungen gewährt.

3.2.3. Leistungen

Die Behandlungsleistungen bei medizinischen Behandlungen werden von den meisten Versicherungen zu 90% erstattet. Nur bei der NKV müssen Selbständige, Landwirte u.ä. 30% und Ruheständler der Krankenversicherungen 20% der Leistungen selbst bezahlen. Familienangehörige müssen bei Krankenhausbehandlungen 20% und bei ambulanter Versorgung 30% der Kosten selbst tragen (Landwirte, Selbständige u.ä. 30%). Bei besonders kostspieligen Leistungen innerhalb eines Monats übernehmen alle Kassen bei Beträgen über ¥63.000 - bei Geringerverdienenden über ¥35.400 - die gesamten Kosten. Außerdem sind Höchstgrenzen für mehrere Krankheitsfälle in einer Familie und ein Höchstbetrag für das gesamte Jahr festgelegt. Für chronisch Kranke, wie z.B. Bluter, ist die Selbstbeteiligung auf höchstens ¥10.000 begrenzt. Die Behandlungskosten werden durch ein genormtes Punktesystem (ein Punkt sind ¥10) für medizinische Behandlungen abgerechnet. Nicht-medizinische Leistungen (z.B. waschen) werden nicht von den Krankenkassen übernommen und müssen z.T. durch die Angehörigen übernommen werden. Die Zusatzleistung einer privaten Pflegekraft oder der Einsatz neuer, hochspezialisierter Medikamente können durch eine private Zusatzversicherung - z.T. durch den Arbeitgeber - abgesichert werden.

Zusatzleistung Versicherte Angehörige
Rückerstattung des Patientenanteils 73,3 73,3
Zusatzunterstützung für intensivmedizinische Versorgung 54,4  
Zusatzunterstützung bei Unfall und Krankheit 45,6  
Erweiterte Zusatzunterstützung bei Unfall und Krankheit 14,9  
Mutterschaftsgeld 13,0  
Beerdigungszuwendung 71,4 77,2
Entbindungshilfe 63,4 70,5
Zusatzunterstützung für stillende Mütter 51,7 58,0
Versicherungen, die die zusätzlichen Unterstützungen leisten 92,7  

Tabelle 10: Zusätzliche von betrieblichen Krankenversicherungen getragen soziale Kosten [%].

Bei Arbeitsunfähigkeit eines Versicherten mit unterhaltspflichtigen Angehörigen zahlen die Krankenkassen ab dem vierten Tag ein Krankengeld in Höhe von 60% des Nettoverdienstes (Ledige 40%). Die Arbeitnehmer müssen dem Arbeitgeber unverzüglich die Krankheit melden und bei einer Dauer der Krankheiten von mehr als drei Tagen ein Attest vorlegen. Wenn der Arbeitgeber freiwillig die Lohnfortzahlung übernimmt, wird das Krankengeld ausgesetzt oder bei einer Teilzahlung des Lohnes entsprechend gekürzt. Die Bezugsdauer ist auf 18 Monaten beschränkt. Beantragt ein Versicherter mehrfach wegen einer Krankheit ein Krankengeld, können diese nach drei Jahren eingestellt werden. Ebenso entfällt das Krankengeld bei Beantragung einer Invalidenrente.

Zusatzleistung der Krankenkasse sind eine Entbindungsbeihilfe von 50% des Nettoeinkommens für weibliche Versicherte (mindestens ¥240.000), Ehefrauen bekommen ebenso diesen Mindestbetrag. Neugeborene erhalten ein "Begrüßungsgeld" von ¥2.000. Im Todesfall wird für Versicherte ein Nettogehalt oder mindestens ¥100.000 als Beerdigungszuschuß gewährt (Angehörige ¥100.000).

 

3.3. Krankenversorgung der sozial Schwachen

3.3.1. Rentner

1969 wurde in Tokyo die freie medizinische Versorgung für Personen ab dem siebzigsten Lebensjahr eingeführt. Diese Regelung verbreitete sich über das gesamte Land und wurde 1973 in die nationale Gesetzgebung übernommen. Der durch ältere Patienten verursachten Kostenanteil stieg in den 70ern überproportional an. Daher wurde 1983 die freie medizinische Versorgung wieder durch eine geringe monatliche Selbstbeteiligung von ¥400 für ambulante und ¥300 für stationäre Versorgung ersetzt, welche bis 1992 auf ¥900 bzw. ¥500 erhöht wurden. Diese Maßnahme wurde dadurch begründet, daß die Alten aufgrund der kostenfreien Versorgung "zu schnell und zu häufig zum Arzt gingen." Das überproportionale Wachstum hat verschiedene Gründe. Der Kostenanteil der Alten war durch die schlechte Absicherung - mit einer Eigenbeteiligung von 50% - bis in die 60er sehr gering. Durch die Überalterung der japanischen Gesellschaft sank der Anteil der Jüngeren und stieg der der Älteren sowie folglich auch deren Anteil an den Kosten. Durch das Ansteigen der Lebenserwartung, sind die Kosten für pflegeintensive, chronische Krankheiten angestiegen (siehe 3.1.2).

3.3.2. Tagelöhner

Die Krankenversicherung für Tagelöhner basiert ebenso wie die Arbeitslosen- und Rentenversicherung auf dem Sammeln von Versicherungsmarken. Die hiyatoi können für jeden gearbeiteten Tag je nach Lohnhöhe und Branche Versicherungsmarken erwerben, welche sie in ein Versicherungsnachweisheft kleben. Für die Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen sind neben dem Heft, ein entsprechender Antrag, ein Berechtigungs- und ein Arbeitssuche-Nachweis nötig. Neben einem Krankengeld können Tagelöhner ein Kindergeld und einen Zuschuß zu den Beerdigungskosten erhalten.

 

3.4. Berufsunfallversicherung

Schon in der Meiji-Zeit mußten die Unternehmen durch das Fabrikgesetz (kójohó) von 1911 bei Betriebsunfälle den betroffenen Arbeitnehmern Entschädigungen zahlen. Im Jahre 1947 wurde durch das Arbeitsunfallversicherungsgesetz (ródósha saigai hóshó hoken hó), ein Recht der Arbeitnehmer auf Entschädigungen eingeführt. Bei der Reform 1972 im Gesetz über Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz (ródó anzen eisei hó) wurde der Sicherheitsaspekt stärker betont. Dieses Gesetzt entspricht in etwa den internationalen Standards, doch wurde es durch zahlreiche Ausnahmeregelungen für die kleinen und kleinsten Unternehmen stark "durchlöchert". Die offiziellen Statistiken der Arbeitsunfälle erfassen nur Betriebe mit über 100 Beschäftigten, wodurch die Unfallzahl deutlich nach unten verschoben wird. Häufig werden Arbeitsunfälle nicht als solche gemeldet, da die Betroffenen durch die Meldung negative Folgen auf ihre berufliche Laufbahn erwarten.

Die Arbeitsunfallversicherung kommt nach Arbeitsunfällen oder Unfällen auf dem Weg zur Arbeit für ärztliche Leistungen auf und bezahlt gegebenenfalls abhängig von den erlittenen Körperschäden Renten sowie Hinterbliebenenrenten. Die Finanzierung trägt alleine der Arbeitgeber. Die Beiträge, welche durchschnittlich in etwa bei 2,5% der Bruttolöhne liegen, richten sich nach einer Einstufung durch die Versicherung und der Häufigkeit von Unfällen im betreffenden Unternehmen. Dies bewirkt, daß die Unternehmen die Zahl der Unfälle niedriger angeben.

Auch Tagelöhner sind von der Unfallversicherung eingeschlossen. Sie erhalten vom Arbeitgeber für die ersten drei Tage einen Verdienstausfall von 80% des Einkommens am Unfalltag. Die hiyatoi sind überproportional von Arbeitsunfällen betroffen da sie häufig in den sogenannten 3-K-Arbeit beschäftigt sind: kiken (gefährlich), kitanai (schmutzig) und kitsui (hart). Dies gilt auch für illegal Beschäftigte, welche an gefährlichen Arbeitsplätzen eingesetzt werden, die für reguläre Beschäftigte arbeitsrechtlich nicht möglich wäre (Arbeitssicherheitsstandards). Über die Einstellung durch Subkontraktoren können die Gefahren einer strafrechtlichen Verfolgung verringert werden.