Fast fünf Jahrzehnte stand J. Edgar Hoover - Amerikas Kommunistenjäger Nr. 1 - an der Spitze der USA-Geheimpolizei FBI. Wer in sein Feindraster geriet, konnte ihm nicht mehr entrinnen. In den 60er Jahren machte er Jagd auf Martin Luther King.
In diesen Tagen hat die USA-Bürgerrechtsbewegung den 30. Todestag des unvergessenen schwarzen Predigers begangen. In Memphis (Tennessee), wo er am 4. April 1968 auf dem Balkon des Lorraine Motels erschossen worden war, folgten Tausende der Marschroute jener streikenden Müllarbeiter, denen King damals hatte zu Hilfe kommen wollen.
Währenddessen verbrachte James Earl Ray - der von Hoovers Leuten bald nach der Tat präsentierte und 1969 vom Richter ohne Prozess und Beweisaufnahme allein aufgrund seines bald darauf widerrufenen "Geständnisses" zu 99 Jahren Haft verurteilte "Einzeltäter" - den Tag der Wiederkehr des Morddatums in einem komaähnlichen Dämmerzustand.
Das offizielle Amerika preist King als Propheten, als Märtyrer, sogar als Nationalhelden. Mit Ehrungen und Sermonen will es den Mantel des Vergessens über die Hintergründe der Bluttat von Memphis breiten, die weder der Todesschuss eines einzelnen Rassisten noch ein Verbrechen ohne Wurzeln im Denken und Handeln der Mächtigen des Landes war. So urteilen nicht nur kritische Historiker und Kriminologen. So mutmasst nicht nur die linke und demokratische Öffentlichkeit. Daran glaubt mittlerweile auch die gesamte Familie des Ermordeten.
Seine Witwe Coretta King fordert gemeinsam mit den Söhnen des Predigers ein totales Wiederaufrollen des Falles, da Ray nicht der Täter gewesen sei. Jetzt schlug sie vor, im Interesse des Herausfindens der Wahrheit eine Kommission nach südafrikanischem Vorbild zu bilden. Jeder mit Wissen über die Zusammenhänge des seinerzeitigen Geschehens solle bei Offenbarung seiner Kenntnis Straffreiheit geniessen, empfahl Coretta King den Behörden.
Die "New York Times" zitierte Ray-Anwalt William Pepper - er hatte den Fall erst nach der Entlassung seines Vorgängers, von dem der Verurteilte zum Kuhhandel mit dem Richter ("Geständnis" gegen Zusicherung des Verzichts auf die Todesstrafe) gedrängt worden war, übernommen - am 3. April mit den Worten: "Mr. King fiel einer Verschwörung zum Opfer, in die die Armee, das FBI, eine von New Orleans aus operierende Mafia-Familie und die Polizei in Memphis, all das mit Wissen von Präsident Lyndon B. Johnson, verstrickt waren."
Wir wollen uns hier mit dem Part derjenigen beschäftigen , die Ray als Opferbock ins Spiel brachten, um von den eigentlichen Drahtziehern und Tätern abzulenken. Die Regie lag bei J. Edgar Hoover, dessen Weiterverwendung als FBI-Direktor - Parteifreunde hatten ihm von dessen Bestätigung im Amt dringend abgeraten - Präsident Johnson nach seiner Wahl mit dem Bemerken verfügte: "Mir ist lieber, wenn er aus dem Zelt hinaus- als wenn er in das Zelt hineinpisst."
Schon 1957 war von Hoover erstmals eine Akte über Martin Luther King, der als Vorsitzender der christlichen Bürgerrechtsorganisation SCLC auf einem Pilgermarsch nach Washington gesprochen hatte, unter der Bezeichnung "Rassenangelegenheiten" angelegt worden. King wurde die "Registrierung von Negerwählern in den Südstaaten" angekreidet. Wenig später wurden angeblich "Querverbindungen zu bekannten Kommunisten aufgedeckt". Am 8. Januar 1962 sandte der FBI-Direktor ein Memorandum an Justizminister Robert Kennedy, das fälschlicherweise unterstellte, Kings engster Freund, der New Yorker Anwalt Stanley Levison, sei Mitglied der KP der USA. Nur einen Monat danach liess Hoover den Geistlichen als Person erfassen, die unter dem Verdacht subversiver Tätigkeit stehe. Er wurde auf eine Liste von "Kommunisten" gesetzt, die "im Notstandsfalle" zu arretieren seien.
Bald darauf streute der Geheimpolizeichef die Behauptung aus, der Amtierende SCLC- Exekutivdirektor Jack O'Dell gehöre dem Nationalkomitee der Kommunistischen Partei an. Als auch diese Ente geplatzt war, wies Hoover sämtliche FBI-Feldbüros an, Informationen über Kings Freundeskreis zu sammeln. Zwischen Januar und Juni 1963 bombardierte die FBI-Zentrale das Justizministerium mit dubiosen Memoranden.
Bei einem Spaziergang durch den Rosengarten des Weissen Hauses wandte sich Präsident John F. Kennedy an King und sagte warnend: "Ich nehme an, dass Sie unter sehr dichter Überwachung stehen". Kontakte des Pfarrers zu Kommunisten könnten die Bürgerrechtsgesetzgebung in Gefahr bringen.
Nachdem King dem Druck erlegen war und O'Dell aus seiner SCLC-Funktion entlassen hatte, gab Hoover keineswegs Ruhe. Am 29. Juli 1963 übermittelte er Robert Kennedy einen dann weit verbreiteten Bericht, der den Titel trug: "Martin Luther King: Verbindungen mit der kommunistischen Bewegung". Gefordert wurde jetzt die Überwachung sämtlicher Telefonanschlüsse des Geistlichen.
Als Antwort auf den grossen Marsch der Bürgerrechtler auf Washington am 28. August 1963 versandte Hoover ein weiteres Memorandum, in dem es über King hiess: "Wir müssen ihn nun ... vom Standpunkt des Kommunismus, der Neger und der nationalen Sicherheit als den für die Zukunft dieser Nation gefährlichsten Neger kennzeichnen." Weitere Materialien über den SCLC-Vorsitzenden gingen ab Oktober 1963 erstmals auch an die CIA, das Pentagon und die Geheimdienste der Teilstreitkräfte.
Unmittelbar nach der Ermordung Präsident Kennedys am 22. November 1963 beriet das FBI auf einer Konferenz, wie die "Demontage Dr. Kings" vonstatten gehen sollte. Es wurde beschlossen, "alle verfügbaren Techniken" einzusetzen, um den Prediger in Misskredit zu bringen. Dabei wollte man andere Priester, "verärgerte" Bekannte, "aggressive" Journalisten und "farbige Agenten" einsetzen. Es begann die Rund-um-die-Uhr-Beschattung Kings durch Detektive und Fotographen des FBI. Sein Zimmer im Washingtoner Willard-Hotel wurde in der Hoffnung "verwanzt", dem Geistlichen moralische Verfehlungen nachweisen zu können.
Im Dezember 1963 war King vom USA-Nachrichtenmagazin "Time" zum "Mann des Jahres" auserkoren worden. 1964 ernannten ihn mehrere Universitäten zum Ehrendoktor. In Rom wurde er von Papst Paul VI. in Privataudienz empfangen. Mitte Oktober erkannte man dem Führer der USA-Bürgerrechtsbewegung den Friedensnobelpreis zu. Die feierliche Übergabe der Auszeichnung sollte im Dezember stattfinden.
Während all dies geschah, setzte Hoover seine Intrigen fort. Auf die "Time"- Entscheidung reagierte er mit der Notiz: "Sie haben tief im Müll wühlen müssen, um mit dem hier aufzuwarten." Kardinal Francis Spellman wurde gebeten, den Papst zum Verweigern der Audienz zu bewegen. Öffentlich und ungestraft konnte der FBI-Chef Martin Luther King als "einen der niedrigsten Charaktere" und "notorischsten Lügner" im Lande beschimpfen.
Wieweit Hoover in seinem Hassfeldzug gegen King gegangen war, erfuhr man erst später. Das Hauptquartier der Geheimpolizei hatte die durch Abhören gewonnenen Tonbänder aus dem Willard-Hotel an das SCLC-Büro in Atlanta geschickt. Ein Begleitbrief forderte den Bespitzelten auf, entweder Selbstmord zu begehen oder die Verbreitung der Mitschnitte am Vorabend der Nobelpreisverleihung in Kauf zu nehmen. "King, Dir ist nur noch eins zu tun geblieben. Du weisst, was das ist. Du hast noch 34 Tage Zeit ... Du bist fertig. Es gibt nur einen Ausweg für Dich...", stand in dem vom Hause Hoover lancierten Brief, der genau 34 Tage vor der Zeremonie in Oslo zugestellt wurde.
Nach Kings Ermordung am 4. April 1968 aber wagte es der FBI-Chef allen Ernstes, der verblüfften Weltöffentlichkeit in Gestalt des bedrohten und erpressten James Earl Ray einen "Einzeltäter" anzubieten.
Inzwischen hat Präsident Clinton den Justizminister ersucht, der Bitte von Coretta King zu entsprechen und neu zu ermitteln. Ray selbst, der sein Geständnis drei Tage nach seiner Verurteilung bereits wiederrufen hatte, kann nicht mehr befragt werden: Er erlag am vergangenen 23. April einem schweren Leberleiden, das von einer Messerstecherei im Gefängnis herrührte...
Konrad Strehl, 1996